Interview: Herausforderungen und Perspektiven im Mutter-Kind-Vollzug des deutschen Strafvollzugssystems

Im Juli veröffentlichte die Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe e.V. (BAG-S) aktuelle Daten zum Mutter-Kind-Vollzug in Deutschland. Die Studie zeigt dringenden und umfassenden Handlungsbedarf auf. Im Gespräch mit Christina Müller-Ehlers, der Geschäftsführerin der BAG-S, beleuchtet das Netzwerk Kinder von Inhaftierten die zentralen Ergebnisse der Studie, diskutiert die drängendsten Probleme und erfährt mehr über notwendige Reformen, um den Schutz und die Förderung von Kindern inhaftierter Mütter zu gewährleisten.

Welche Erkenntnisse haben Sie aus Ihrer Anfrage an die Landesjustizministerien im Zeitraum 2017 bis 2022 gewonnen? Gab es Aspekte, die Sie besonders überrascht oder besorgt haben?

Die Anfrage an die Landesjustizministerien hat dieses Thema der gemeinsamen Unterbringung von Müttern mit ihren Kindern wieder in den Fokus gerückt. Die letzten verfügbaren Zahlen sind aus dem Jahr 2010.

Derzeit gibt es in neun Bundesländern insgesamt 160 Haftplätze für Mütter mit ihren Kindern, während etwa 2600 Frauen inhaftiert sind, von denen rund zwei Drittel Kinder haben. Es bleibt unklar, ob die vorhandenen Plätze ausreichend sind, denn die Anforderungen an die Mütter sind oft so hoch, dass viele Anträge aufgrund ihrer Lebenssituation abgelehnt werden. Leider konnten wir durch die Anfrage nicht genau herausfinden, wie viele Ablehnungen es tatsächlich gibt.

Ein weiterer Punkt ist, dass die Belegungszahlen zeigen, dass der offene Vollzug fast nie voll ausgelastet ist. Dies liegt daran, dass die Mütter nicht nur die Kriterien für den Mutter-Kind-Vollzug erfüllen müssen, sondern auch für den offenen Vollzug geeignet sein müssen. Diese doppelten Hürden führen dazu, dass viele Mütter keinen Zugang zu diesen Plätzen erhalten.

Besonders auffällig ist die Tatsache, dass viele Bundesländer gar keine oder nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Unterbringung von Müttern mit ihren Kindern bieten. Diese fehlende Einheitlichkeit führt zu ungerechten Bedingungen für die betroffenen Familien.

Erschreckend ist zudem, dass Geburten im deutschen Strafvollzug lediglich geschätzt werden und es keine systematische Erfassung dieser Ereignisse gibt. Eine präzise und umfassende statistische Erhebung ist dringend notwendig, um die Situation der betroffenen Frauen und Kinder besser beurteilen und verbessern zu können.

Die Umfrage zeigt, dass die Regelungen im Mutter-Kind-Vollzug je nach Bundesland sehr unterschiedlich sind. Welche Auswirkungen hat diese Vielfalt auf die betroffenen Mütter und Kinder und wie bewerten Sie die bestehenden Regelungen?

In 13 Bundesländern gibt es die Möglichkeit, Frauen im Strafvollzug unterzubringen, während Rheinland-Pfalz, Thüringen und Sachsen-Anhalt Verwaltungsvereinbarungen mit anderen Bundesländern haben. Allerdings existieren spezielle Mutter-Kind-Abteilungen nur in neun Bundesländern. Diese Abteilungen sind teilweise Teil des regulären Strafvollzugs, während sie in Einrichtungen wie Aichach, Vechta oder Frankfurt am Main als Jugendhilfeeinrichtungen gelten. Letzteres bietet den Müttern und Kindern ganz andere Möglichkeiten der Betreuung und Unterstützung.

Diese Unterschiede führen dazu, dass die Chancen auf einen gut ausgestatteten Mutter-Kind-Vollzug stark vom Wohnort abhängen. Hinzu kommen die unterschiedlichen Anforderungen an die Mütter, die je nach Bundesland variieren. In Bundesländern, in denen Mutter-Kind-Abteilungen als Jugendhilfeeinrichtungen geführt werden, gibt es eine deutlich bessere pädagogische Betreuung und Unterstützung für die Mütter und ihre Kinder. Das bedeutet jedoch auch, dass eine Mutter in Hamburg ganz andere Kriterien erfüllen muss als eine Mutter in Frankfurt.

Was sind die größten Herausforderungen, denen der Mutter-Kind-Vollzug in Deutschland aktuell gegenübersteht? Gibt es besondere Problemfelder, auf die Sie als BAG-S immer wieder aufmerksam machen?

Eine der größten Herausforderungen ist die Schaffung gleicher Bedingungen für Mütter und Kinder im Strafvollzug. Derzeit variieren die Regelungen und die Qualität der Unterbringung je nach Bundesland stark. Diese Ungleichheit führt zu einer Ungerechtigkeit, da die Chancen auf eine angemessene Unterbringung von Müttern und Kindern stark vom Wohnort abhängen.

Der Wohnort einer Mutter sollte nicht darüber entscheiden, ob sie mit ihrem Kind zusammenbleiben kann. Es fehlen flächendeckende Unterbringungsmöglichkeiten, und viele Mütter müssen weit reisen, um Zugang zu Mutter-Kind-Abteilungen zu erhalten, was oft eine Trennung von dem Rest der Familie bedeutet. Es müssen dringend mehr Kapazitäten geschaffen werden, damit Mütter, die die Kriterien für eine Mutter-Kind-Abteilung erfüllen, nicht von ihren Kindern getrennt werden, nur weil es nicht genügend Plätze gibt.

Ein weiteres großes Problem ist die Sicherstellung des Kindeswohls im Strafvollzug. Kinder wachsen in einem Umfeld auf, das nicht auf ihre Bedürfnisse ausgelegt ist, was langfristige negative Auswirkungen auf ihre Entwicklung haben kann. Deshalb müssen mehr offene Plätze für Mütter mit Kindern geschaffen werden, die kindgerechtere Bedingungen bieten. Zusätzlich muss der bürokratische Aufwand für vollzugsöffnende Maßnahmen reduziert werden, damit Mütter leichter Zugang zu diesen Plätzen erhalten.

Ein zentrales Thema ist die hohe Zahl von Frauen im Strafvollzug, die an psychischen Beeinträchtigungen leiden. Diese Frauen sind besonders gefährdet, keine Chance auf eine gemeinsame Unterbringung mit ihren Kindern zu bekommen. Es ist dringend erforderlich, Mechanismen zu entwickeln, um auch diesen Frauen die Möglichkeit zu geben, mit ihren Kindern zusammenzubleiben. Dies erfordert spezielle Unterstützungsangebote und Betreuung, um sicherzustellen, dass sowohl das Wohl der Mutter als auch das des Kindes gewährleistet ist.

Die psychosoziale Betreuung von Müttern mit ihren Kindern ist in vielen Einrichtungen unzureichend. Mütter, die im Strafvollzug sind, benötigen umfangreiche Unterstützung, um ihre Erziehungsfähigkeiten zu stärken und die Bindung zu ihren Kindern zu fördern. Es ist dringend notwendig, die psychosozialen Betreuungsangebote in den Mutter-Kind-Abteilungen auszubauen. Dies umfasst regelmäßige Beratungen zur Kindesentwicklung und die Unterstützung bei der Erziehungsarbeit.

In Ihren Berichten fordert die BAG-S einheitliche Mindeststandards für den Mutter-Kind-Vollzug. Welche konkreten Veränderungen halten Sie für notwendig, um die Situation der betroffenen Familien zu verbessern?

Wir wollen sicherstellen, dass jede Mutter in Deutschland – unabhängig vom Wohnort – die gleichen Chancen auf eine gemeinsame Unterbringung mit ihrem Kind hat. Es darf nicht sein, dass eine Mutter in Bayern bessere Möglichkeiten hat als eine in Thüringen. Um dies zu gewährleisten, ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Justiz unerlässlich. Diese beiden Systeme müssen eng verzahnt arbeiten, um sicherzustellen, dass sowohl die Bedürfnisse der Kinder als auch die der Mütter berücksichtigt werden.

Wie sehen Sie die Rolle psychosozialer Unterstützung im Mutter-Kind-Vollzug? Sind diese Angebote in allen Bundesländern ausreichend vorhanden, und wie könnte eine flächendeckendere Versorgung aussehen?

Psychosoziale Unterstützung spielt eine zentrale Rolle im Mutter-Kind-Vollzug. Diese Angebote sind jedoch nicht flächendeckend vorhanden. Um eine flächendeckendere Versorgung sicherzustellen, müssten mehr qualifizierte Fachkräfte in die Mutter-Kind-Abteilungen integriert werden. Besonders wichtig sind regelmäßige Beratungen zur Kindesentwicklung und Unterstützung bei der Erziehungsarbeit. Dies erfordert die flächendeckende Anerkennung als Einrichtung der Jugendhilfe.

Wie sehen Sie die Zukunft des Mutter-Kind-Vollzugs in Deutschland? Gibt es bereits vielversprechende Ansätze oder Pilotprojekte, die als Vorbild für andere Bundesländer dienen könnten?

Die Zukunft des Mutter-Kind-Vollzugs in Deutschland muss in erster Linie auf der Vermeidung von Inhaftierungen basieren, insbesondere in Fällen, in denen Kinder betroffen sind. Haftvermeidende Strategien müssen in allen Situationen genutzt werden, um sicherzustellen, dass Mütter und ihre Kinder nicht getrennt werden. Ein entscheidender Aspekt ist die wohnortnahe Unterbringung in kindgerechten Einrichtungen, damit die Kinder in ihrem gewohnten sozialen Umfeld bleiben können und gleichzeitig die Mutter-Kind-Bindung gestärkt wird.

Es ist wichtig, Alternativen zur klassischen Haft stärker in Betracht zu ziehen. Ein Ansatz wie „Erziehungstrainings statt Strafe“ könnte eine sinnvolle Lösung darstellen, ähnlich dem Modell „Arbeit statt Strafe“. Solche Trainings könnten Müttern helfen, ihre Erziehungsfähigkeiten zu verbessern und gleichzeitig vermeiden, dass sie und ihre Kinder durch eine Inhaftierung getrennt werden. Besonders Frauen, die oft kurze Freiheits- oder Ersatzfreiheitsstrafen verbüßen, könnten von diesen Alternativen profitieren.

Auch das Konzept des „Hausfrauenvollzugs“, bei dem die Mütter ihre Strafe zu Hause verbüßen und dabei die Möglichkeit haben, sich um ihre Kinder zu kümmern, könnte unter einem modernen Namen neu aufgelegt werden und wäre eine Möglichkeit, um Inhaftierungen zu vermeiden und gleichzeitig das Wohl der Kinder zu sichern. Solche Ansätze bieten nicht nur eine bessere Perspektive für die betroffenen Familien, sondern entlasten auch den Strafvollzug und die Jugendhilfe.

Ein vielversprechendes Pilotprojekt ist der „Strafvollzug in freien Formen“ im Bundesland Sachsen, das als erstes Bundesland dieses Modell für Frauen eingeführt hat. Es bleibt abzuwarten, ob dieses Konzept auch für Frauen mit Kindern erweitert wird.

Darüber hinaus müssen wir Angebote entwickeln, die es Vätern ermöglichen, gemeinsam mit ihren Kindern untergebracht zu werden.