Aktionstage Gefängnis: Interview mit Judith Feige über Würde, Teilhabe und die unsichtbaren Belastungen für Kinder von Inhaftierten



Im Rahmen der Aktionstage Gefängnis 2024 sprach das Netzwerk KvI mit Judith Feige vom Deutschen Institut für Menschenrechte über Kinderrechte und die Situation von Kindern inhaftierter Eltern. Das Interview beleuchtet Themen wie die Wahrung der Menschenwürde, die Rechte der Kinder auf Kontakt und Mitbestimmung sowie die bestehenden Herausforderungen im Strafvollzugssystem.

 

Frau Feige, das diesjährige Motto der Aktionstage Gefängnis lautet „Würde, Mitbestimmung, Teilhabe“. Vor diesem Hintergrund: Wie bewerten Sie die aktuelle Situation der Kinder von Inhaftierten in Deutschland, insbesondere aus kinderrechtlicher Perspektive?

Die Menschenwürde und damit natürlich auch die Würde des Kindes steht zu Beginn des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Sie wird gleich in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 festgeschrieben, mit der die Vereinten Nationen den Prozess der internationalen Normierung von Menschenrechtsstandards einleiten.

Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen von 1989 und damit die Kinderrechte fußen auf diesem menschenrechtlichen Grundgedanken. Die Kinderrechte verstehen Kinder und Jugendliche als eigenständige Persönlichkeiten mit eigenen Rechten, mit eigener Würde und eigenen Bedarfen. Im Zentrum der UN-Kinderrechtskonvention, die eine Vielzahl von verbindlichen Schutz-, Fürsorge- und Beteiligungsrechten vorsieht, steht die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls. Kinder, deren Eltern von einer Haftstrafe betroffen sind, befinden sich in einer besonders verletzlichen Lebenslage. Für die gesamte Familie ist Haft oft verbunden mit sozialem Ausschluss und finanziellen Einschränkungen. Dazu kommt der „Verlust“ einer wichtigen Bezugsperson, denn ab der Inhaftierung ist ein Kontakt – wenn überhaupt – nur noch begrenzt möglich.

Wie gut Kinder die Haftstrafe eines Elternteils bewältigen, hängt maßgeblich von der Stabilität ihrer übrigen familiären Beziehungen, ihrem sozialen Umfeld sowie ihrer psychischen und physischen Verfassung ab. Auch die Ausstattung und Abläufe in den Gefängnissen rund um die unterschiedlichen Kontaktmöglichkeiten zum inhaftierten Elternteil spielen eine entscheidende Rolle. In unserer Arbeit in der Monitoring-Stelle haben wir Projekte kennengelernt, die zeigen, dass ein regelmäßiger, qualitativ hochwertiger Kontakt den Kindern helfen kann, ihre Entwicklung und Resilienz zu fördern. Dieser regelmäßige und qualitativ hochwertige Kontakt ist in Deutschland aktuell jedoch noch nicht für alle Kinder mit inhaftierten Eltern gegeben.

Kinder von Inhaftierten sind oft die unsichtbaren Leidtragenden der Haft ihrer Eltern. Inwieweit werden die Rechte und das Wohl dieser Kinder im aktuellen Strafvollzugssystem berücksichtigt? Wo sehen Sie die größten Defizite?

Die Besuchszeiten variieren von Bundesland zu Bundesland: Ob Kinder ihren inhaftierten Elternteil im Monat eine Stunde, zwei Stunden, vier Stunden oder länger sehen können, hängt davon ab, in welchem Bundesland ihr Vater oder ihre Mutter inhaftiert ist.

Aus einer kinderrechtlichen Perspektive gesprochen, ist das ein gravierendes Defizit, denn so gelten die Kinderrechte nicht für jedes Kind überall in Deutschland auf gleiche Weise.

Es ist auch ein Defizit, dass die Besuchsrechte in Deutschland den Inhaftierten zustehen. Es sollte ein gesondertes Besuchsrecht für Kinder geben, und zwar in allen Straf- und Justizvollzugsgesetzen der Länder, das einen Besuch mindestens einmal die Woche ermöglicht – für kleinere Kinder häufiger – und zusätzlich noch alternative Kommunikationsmöglichkeiten umfasst. Dazu gehört zum Beispiel Telefon und Videotelefonie. Übrigens fordert dies auch der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes. Dieser hat 2022 eine Reihe von Empfehlungen Kinder inhaftierter Eltern betreffend an Deutschland ausgesprochen.

Neben den Defiziten im Zugang zum Besuchsrecht von Kindern ist es wichtig, einen Blick auf die Durchführung des Besuchs- und Kontakts zu werfen. Denn auch das Besuchsumfeld in den Gefängnissen in Deutschland variiert stark. Manche Justizvollzugsanstalten halten kindgerechte Besuchsräume mit Spieleecken oder gar Apartments für Wochenendbesuche vor, in anderen sehen Kinder ihre Eltern in den normalen Besuchsräumen mit vielen weiteren Menschen. Informationen in kindgerechter Sprache sind in den Gefängnissen oft nur vereinzelt vorhanden und Justizbeamt*innen oder andere Fachkräfte wissen nur wenig über die Situation der Kinder. Es hat sich hier in den letzten Jahren zwar schon einiges getan, unsere Untersuchung 2023 hat aber gezeigt, dass es nach wir vor Handlungsbedarf gibt.

Die UN-Kinderrechtskonvention (Artikel 9) garantiert Kindern das Recht auf regelmäßigen Kontakt zu ihren Eltern, es sei denn, dies widerspricht ihrem Wohl. Wie gut ist dieses Recht für Kinder von Inhaftierten in Deutschland durchgesetzt und wo sehen Sie Verbesserungsbedarf?

Jedes Kind hat gemäß Artikel 9 Absatz 3 UN-KRK das Recht auf eine regelmäßige persönliche Beziehung und unmittelbaren Kontakt zu seinen Eltern, soweit dies nicht dem Kindeswohl widerspricht. Das gilt auch und insbesondere dann, wenn die Trennung aufgrund einer staatlichen Entscheidung entstand – wie beispielsweise der Inhaftierung eines Elternteils. In Deutschland werden die Bedarfe und Rechte von Kindern inhaftierter Eltern bereits seit längerem auf Ebene der Justizbehörden sowie Bundes- und Landesebene diskutiert.

Für uns als Monitoring-Stelle ist es wichtig, dass Bund, Länder und die Justizvollzugsanstalten ihrer Staatenpflicht aus der UN-Kinderrechtskonvention nachkommen und einen familiensensiblen Vollzug gestalten, der das Wohl des Kindes aus Artikel 3 UN-KRK berücksichtigt. Damit einhergehen sollen Mindeststandards für die Häufigkeit von Besuchen von Kindern – also nach kinderrechtlichen Vorgaben mindestens einmal wöchentlich, für kleinere Kinder auch häufiger. Dazu kommen kindgerechte Besuchsräume, die Möglichkeit zu Körperkontakt und Sport- sowie Spieleangebote während der Besuchszeiten – und zwar in jeder Justizvollzugsanstalt. Ein gutes Beispiel ist Nordrhein-Westfalen mit seinen Regelungen zum familiensensiblen Strafvollzug.

Einige Justizvollzugsanstalten arbeiten bereits eng mit Seelsorge, Initiativen und Verbänden zusammen, die die Angehörigen von Inhaftierten begleiten und viel Erfahrung im Umgang mit Kindern haben. Leider stellen wir immer wieder fest und es wird uns berichtet, dass die Kinder- und Jugendhilfe meist noch nicht sehr aktiv auf betroffene Kinder und ihre Familien zugeht. Der Bund könnte hier zu einer Klärung beitragen.

Kinder inhaftierter Eltern haben selten die Möglichkeit, bei Entscheidungen über den Kontakt zu ihren Eltern mitzureden. Wie könnte Mitbestimmung für diese Kinder besser integriert werden und welche strukturellen Änderungen wären nötig?

Die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls (best interests of the child) aus Artikel 3 Absatz 1 UN-KRK ist untrennbar verbunden mit dem Recht auf Gehör und Berücksichtigung der Meinung des Kindes (Beteiligung) aus Artikel 12 UN-KRK. Diese beiden Artikel gehören zusammen und sie sind in Bezug aufeinander entstanden. Um Entscheidungen im besten Interesse des Kindes herbeizuführen, ist eine aktive Einbindung des Willens und der Wünsche des Kindes zwingend erforderlich. Damit rückt das Kind in den Mittelpunkt. Um dies im Kontext Strafvollzug zu berücksichtigen wäre ein Paradigmenwechsel nötig: Dann müsste bereits bei der Bemessung des Strafmaßes – also während des Strafprozesses – geprüft werden, ob die angeklagte Person Kinder hat und wie sich das Strafmaß auf die Kinder auswirken würde. Also Kinder müssten schon sehr viel früher als jetzt in ihren Rechten gesehen werden. Der UN-Ausschuss empfiehlt übrigens auch Haftalternativen zu prüfen. Zudem sollten Kinder bei der Ausgestaltung der späteren Besuchssettings und Kontaktmöglichkeiten mit einbezogen werden. Das gilt übrigens schon für Kinder, die noch nicht sprechen können. Sie zeigen sehr häufig über Gestik und Mimik welche Bedürfnisse sie haben oder wenn etwas nicht passt. Darüber hinaus machen hier die Empfehlungen des Europarats von 2018 zu Kindern inhaftierter Eltern sehr deutliche Vorgaben und damit eine Orientierung, wenn es um das Wohl und die Beteiligung von Kindern inhaftierter Eltern geht – eine Empfehlung, zu der sich in Deutschland sowohl von der JFMK als auch von der JUMIKO bekannt haben.

Die gesellschaftliche Stigmatisierung von Kindern inhaftierter Eltern ist ein großes Problem. Welche Ansätze sehen Sie, um das Stigma zu bekämpfen und diesen Kindern mehr gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen?

Der COPING-Studie von 2012 zufolge kann eine Verzahnung von Hilfssystemen entscheidend dazu beitragen, Kinder von inhaftierten Eltern psychisch zu entlasten. Zudem wäre es sehr wichtig, dass alle Fachkräfte, die mit Kindern und Jugendlichen mit Eltern in Haft zu tun haben, noch stärker über Kinderrechte informiert werden. Das würde helfen, zu sensibilisieren und einer Stigmatisierung und Diskriminierung von betroffenen Kindern und Familien entgegenzuwirken. Dafür gibt es schon eine Reihe von Info-Material – übrigens auch für betroffene Kinder direkt. Diese Materialien sollten unbedingt noch bekannter gemacht werden. Unsere Online-Abfrage von 2023 hat gezeigt, dass in etwa der Hälfte der Justizvollzugsanstalten, die wir befragt haben, Kinder- und Familienbeauftragte gibt. Dies sollte flächendeckend in jedem Gefängnis etabliert werden, damit Standards geschaffen, weiterentwickelt und überprüft werden können. Nicht zu unterschätzen ist, dass es Personen gibt, die für die Belange von Kindern und ihren Familien ansprechbar sind – und zwar vor Ort und ganz niedrigschwellig.

Können Sie uns Beispiele nennen, wo in Deutschland bereits Fortschritte in Bezug auf die Würde und Teilhabe von Kindern inhaftierter Eltern gemacht wurden? Welche Ansätze oder Projekte könnten anderen Bundesländern als Vorbild dienen?

In Deutschland setzen sich zahlreiche Projekte und Initiativen für die Rechte und Bedarfe von Kindern inhaftierter Eltern ein und leisten vielseitige Unterstützung. Es fällt mir ganz schwer, hier nur einige nennen zu können, denn diese Projekte und auch die Menschen dahinter, bieten ganz wertvolle Arbeit an wie zum Beispiel Besuchsbegleitung für die Familienangehörigen oder sie richten Spielgruppen und Feriencamps aus. Einen Überblick über aktuelle Initiativen gibt das bundesweite Netzwerk Kinder von Inhaftierten (KvI) auf seiner Internetseite, mit zusätzlichen Informationen direkt für Kinder. Die Internetplattform Juki-Online von Treffpunkt e.V. Nürnberg stellt eine Reihe von kindgerechten Materialien rund um die Inhaftierung eines Elternteils zur Verfügung.

Dem Netzwerk KvI ist es darüber hinaus gelungen, in sechs Bundesländern ein Strukturprojekt zu initiieren und über neu eingerichtete Landesfachstellen den Ausbau weiterer Angebote anzustoßen.

Zum Abschluss: Welche konkreten Schritte erhoffen Sie sich von der Politik, um die Lebenssituation von Kindern inhaftierter Eltern zu verbessern? Was muss sich kurzfristig und langfristig ändern?

Die Forderung, Kinderrechte innerhalb des Strafvollzugs zu berücksichtigen, mag aus vollzugspraktischer Sicht nachrangig erscheinen. Aus der Pflicht des Staates, die UN-KRK umzusetzen, folgt jedoch eine Verpflichtung für staatliche Akteure, eine Schlechterstellung von Kindern, deren Eltern inhaftiert sind, so weit wie möglich zu vermeiden.

Die Umsetzung der Kinderrechte, und hier besonders das Recht auf regelmäßigen und persönlichen Umgang mit beiden Elternteilen, der in einem an den Kinderrechten orientierten Setting stattfindet, liegt in der Verantwortung von Bund und Ländern.

Das soll kurzfristig flächendeckend umgesetzt werden. Auch die Kooperation und Verantwortung von Justiz sowie Familie und Soziales sollte sich kurzfristig bereits stark ändern, denn nur so kann die Situation von Kindern mit Eltern in Haft verbessert werden. Es müssen also alle ihre Verantwortungen ernst nehmen und zum Wohl von Kindern angehen!